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Blog / Veröffentlicht am

Wann wird Barrierefreiheit endlich Normalität?

Marion Frank
Autorin

Marion Frank, Projektmanagement

Als ich vor ein paar Wochen an einem Online-Workshop zu digitaler Barrierefreiheit teilgenommen habe, hatte ich den Eindruck, dass viele der Teilnehmenden eher aus Zwang dabei waren. Wegen dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG), das seit 28. Juni 2025 in Kraft getreten ist. Dieses besagt, dass Produkte und Dienstleistungen wie Zahlungssysteme barrierefrei gestaltet und auch zertifiziert sein müssen.

Leider höre ich auch zu häufig, dass sich der "Extraaufwand" für digitale Barrierefreiheit gar nicht lohnen würde, da unter ihrer Zielgruppe doch kaum Menschen sind, die von einem nicht barrierefreien Produkt betroffen sind.

Der Großteil der Beeinträchtigungen entstehen erst im Laufe des Lebens

Tatsächlich sind es sehr viele Menschen, die davon betroffen sind. Man bedenke dabei, dass der Großteil der Beeinträchtigungen erst im Laufe des Lebens erworben werden. Zudem gibt es ja nicht nur dauerhafte Einschränkungen, sondern auch temporäre. 

Beispielsweise bei der Bedienung einer App. Du brichst dir die Hand, du bist Mama oder Papa geworden und trägst ein Kleinkind und noch tausend andere Sachen auf deinen Armen herum, du hast eine Bindehautentzündung oder ein Gerstenkorn...

Eine meiner Kolleginnen hatte sich beim Fahrrad fahren den Ellbogen gebrochen und konnte ihren rechten Arm mehrere Wochen gar nicht benutzen. Als Rechtshänderin eine enorme Einschränkung. In dieser Zeit hat ihr beispielsweise die Diktierfunktion am iPhone sehr geholfen.

Wenn man mal darüber nachdenkt, kommt man bestimmt auf die eine oder andere Situation, in der man zumindest temporär eingeschränkt war und das Bedienen von (digitalen) Produkten wirklich schwierig war. 

Barrierefreiheit in digitalen Produkten ist da ein echter Game-Changer - nicht nur für beeinträchtigte Menschen, die täglich damit kämpfen. Auch für die Personen, die das Privileg haben, zumindest aktuell keine Einschränkung zu haben, sind barrierefreie Produkte ein Vorteil. 

Denn von folgenden Punkten (und noch mehr) profitieren wir alle:

  • Hohen Kontrast auf unserem Smartphone bei direkter Sonneneinstrahlung

  • Untertitel bei Videos, wenn wir gerade keine Kopfhörer zur Hand haben

  • Klare und einfache Navigation, bei der wir nicht lange nach Informationen suchen müssen

  • Klare Anweisungen, bei fehlerhaften Eingaben, um nicht lange überlegen zu müssen

Barrierefreiheit ist kein Extraaufwand und greift nicht in gestalterische Schönheit ein

In unserer Arbeit ist Barrierefreiheit längst schon Normalität. Bei der Umsetzung jeglicher digitaler Produkte ist sie für uns kein Ad-On, sondern absolutes Muss.

Zur Standardausrüstung der von uns gestalteten und entwickelten Produkte gehören unter anderem:

  • Responsive Design - für eine optimale Bedienung auf allen Geräten und Bildschirmgrößen

  • Klare Navigation - zum einfachen Zurechtfinden

  • Kontrast und Farbwahl - Vermeidung von Farbkombination, die für Menschen mit einer Sehbehinderung nicht erkennbar wären beispielsweise rot und grün, blau und lila, blau und schwarz

  • Untertitel und Transkripte - um Konversationen in Videos auch ohne Ton verstehen zu können

  • Alternativtexte für Bilder - beschreibende Texte für sehbeeinträchtigte Nutzende

  • Hilfestellungen - bei Eingabefeldern, um schnell zu verstehen, was gemacht werden muss

  • Aufbereitung für Screenreader - um Inhalte und Bedienelemente für Screenreader lesbar zu machen

Umsetzung von Barrierefreiheit in der Praxis

Merle und Lena geben euch einen Einblick, wie wir Barrierefreiheit in Konzeption, Design und Entwicklung berücksichtigen und umsetzen:

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"Wir nutzen beispielsweise das Eslint Plugin „jsx-a11y“, um zunächst die statischen Seiten zu überprüfen. So werden beispielsweise fehlende alt-Texts für Bilder oder Clickevents bei Buttons angezeigt. Um den gerenderten DOM noch genauer zu untersuchen, nutzen wir zudem @axe-core/react. Während der Laufzeit zeigt es auf der Konsole an, ob zum Beispiel Kontraste hoch genug sind. Es überprüft auch wichtige Voraussetzungen für die Verständlichkeit der Seite mittels Screenreader, unter anderem ob die Reihenfolge der Überschriften stimmig ist und ob allen HTML-Tags eine klare Rolle zugewiesen wurde." - Merle, Softwareentwicklerin

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"Besonders interessant wird es, wenn wir einen schon vorhandenen Styleguide haben, der oft auf Print Basis erstellt wurde. Klar wurden dann die Pantone oder CMYK-Farben schon in Hex Codes übersetzt, aber in den meisten Fällen ist die 1:1 Übersetzung nicht barrierefrei. Hier gilt es Wie können wir das digitale Produkt barrierefrei gestalten und im Bereich des Brandings bleiben? Es gibt da verschiedene Lösungen, die je nach Case immer unterschiedlich ausfallen können. Farben werden minimal angepasst, gewisse Farbkombinationen sind digital eben nicht möglich oder Farbabstufungen werden miteinbezogen. So oder so gibt es immer einen Weg, den man auf jeden Fall gehen sollte." Lena, UX/UI & Brand Designerin

In unseren Case-Studies von Gynformation, Hamburger Zukunftsentscheid, und KommMit könnt ihr euch genauer anschauen, wie wir Barrierefreiheit gestalterisch und technisch umsetzen. Ohne wirklich großen Aufwand!

Auf Diversität bei User Testing setzen

Bevor ein digitales Produkt in Konzeption, Design und Entwicklung geht, sollte grundsätzlich ein User Research durchgeführt werden, welches Fokus auf Diversität bei den Testenden legt.

Leider wird häufig auf User Research verzichtet und lieber Annahmen getroffen. Das führt nicht nur dazu, dass digitale Produkte von den Nutzenden oft nicht so gut angenommen werden, da die User Experience nicht ganz stimmt, sondern auch, dass Menschen mit Beeinträchtigungen komplett außer Acht gelassen werden.

Ja, ein intensives User Research ist aufwendig, aber es ist es absolut wert. Denn nur wer die Zielgruppe, in all ihren Facetten, kennt, kann ein Produkt bauen, was wirklich gerne und gut genutzt wird. Damit spart man sich aufwendige und kostenintensive Iterationen im Nachhinein. Und gewinnt mehr Nutzende, da das Produkt wirklich ihre Bedürfnisse erfüllt.

Deshalb sollte zu Beginn einer jeden Produktentwicklung eine diverse Fokusgruppe erstellt werden, mit Menschen unterschiedlichen Alters, Herkunft, Geschlecht und mit verschiedenen Beeinträchtigungen.

Mit dieser testet ihr dann regelmäßig eure Mock-Ups und Prototypen, bis ihr ein Ergebnis habt, dass alle gut nutzen können. Klingt wie ein riesen Ding - ist es aber nicht. Und macht dazu auch Spaß. Denn so entwickelt man ein tiefes Verständnis und Gefühl für seine Zielgruppe und schärft sein eigenes Bewusstsein über die Realität der Menschen.

Digitale Barrierefreiheit direkt umsetzen kostet weniger, als sie im Nachhinein einzubauen

Accessibility von Anfang an mitzudenken, bedeutet keinen Mehraufwand. Geschulte Designer:innen und Entwickler:innen setzen Barrierefreiheit ganz selbstverständlich parallel zum normalen Design- bzw. Entwicklungsprozess um. Ein bestehendes digitales Produkt nachträglich barrierefrei zu machen, ist dagegen deutlich aufwändiger: Erst braucht es ein Audit, dann ein Re-Design – und schließlich muss auch der Code angepasst werden.

Also, lieber gleich richtig machen und ein Zeichen setzen, um nicht im Nachhinein anpassen zu müssen.

Wir hoffen sehr, dass in naher Zukunft Barrierefreiheit nicht mehr als (aufwendiges) Add-On gesehen wird, sondern als Normalität.

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