Disclaimer: Die Informationen und Umfragen, die ich in meiner Recherche gefunden habe, bedienen sich zumeist an der binären Geschlechterordnung Männer und Frauen. Um soweit möglich das ganze Geschlechterspektrum abzubilden nutze ich den Begriff Frauen* und meine damit alle Personen die sich nicht als cis-männlich identifizieren.
Vielleicht habt ihr auch in den letzten Tagen die neuste Kampagne von HateAid gesehen, die Personen auf ihre Rechte im digitalen Raum aufmerksam machen soll?
HateAid zieht mit der Kampagne die Aufmerksamkeit auf eines der Kernthemen der gemeinnützigen Organisation: Digitale Gewalt. Bis Ende Dezember verband ich persönlich mit dem Begriff, sofern ich vorher überhaupt groß über ihn nachdachte, vor allen Dingen die so genannte Hate Speech, also menschenverachtende Aussagen, die Einzelne oder Gruppen abwerten sollen (Quelle). Bis ich den Vortrag von Anne Roth auf dem letzten Jahreskongress des Chaos Communication Club (37c3) sah und durch diesen auf die unterschiedlichen Dimensionen Digitaler Gewalt aufmerksam gemacht wurde. Der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) beschreibt Digitale Gewalt so:
Digitale Gewalt umfasst eine Vielzahl von Angriffsformen, die auf Herabsetzung, Rufschädigung, soziale Isolation und die Nötigung oder Erpressung eines bestimmten Verhaltens der Betroffenen abzielen. Die durch digitale Medien mögliche anonyme Vorgehensweise und die Bandbreite digitaler Kommunikation erleichtern die Angriffe. Digitale Gewalt findet aber ebenso im sogenannten sozialen Nahraum statt.
bff Frauen gegen Gewalt e.V.
Neben Hate Speech als Teil und nicht als Synonym Digitaler Gewalt gelten als Beispiele Stalking, Fake Accounts, Manipulation von Smart Devices oder Bildern, Upskirting oder auch Identitätsdiebstahl. Eben alles, was das Internet oder Technologien, im digitalen so wie im analogen Raum, möglich machen. Beispiele und Erläuterungen finden sich z.B. in der Broschüre Digitale Welten - Digitale Medien - Digitale Gewalt vom Frauennotruf Frankfurt und dem bff.
Nach einer repräsentativen Umfrage im Auftrag von HateAid berichten ca. 50% der befragten Personen zwischen 18 und 35 Jahren, bereits Digitale Gewalt erfahren zu haben. Personen berichten in der Umfrage auch, dass sie auf Grund der Erfahrungen mit Digitaler Gewalt ihre Meinung online zurückhalten. Die Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt Bonn beschreibt die psychischen Folgen Digitaler Gewalt ähnlich zu analoger Gewalt mit den verstärkenden Faktoren, dass sie schwerer kontrollierbar ist und in einem größeren öffentlichen Raum stattfindet (Quelle).
Das Zurückziehen oder -drängen von Personen aus dem öffentlichen Raum Internet ist eine Einschränkung der Meinungsfreiheit und somit eine Einschränkung eines der Grundrechte einer Demokratie. Das und die psychischen Folgen von Digitaler Gewalt zeigen, dass es, neben vielen Chancen, auch vielschichtige Herausforderungen im Zuge der fortführenden Digitalisierung gibt.
Was sagt denn die Regierung dazu?
Kurz: Nicht so super viel. Zumindest nicht genug. Stand jetzt gibt es Eckpunkte zu einem Gesetz vom Bundesministerium für Justiz (BMJ). Eckpunkte sind allerdings nicht mal ein Gesetzesentwurf. Und selbst diese sind bei weitem nicht umfangreich genug, um den verschiedenen Ausformungen Digitaler Gewalt ernsthaft etwas entgegen zu setzen. Die zwei größten Schwachstellen: Zum Einen definiert das BMJ Digitale Gewalt als Beleidigungen im Netz. Ja, das ist ein Teil davon und wichtig. Allerdings, wie oben beschrieben, nur ein Teil des Problems und wird dem Thema insgesamt nicht gerecht. Zum Anderen fokussieren sich die Eckpunkte, mal wieder, auf Klarnamenzwang und Identifikation im Internet. Ein leidiges Thema und komplett fehlgeleitet. Anonymität im Netz ist wichtig für die Demokratie und ermöglicht die freie Meinungsäußerung.
Ein Hoffnungsschimmer: Eine Studie mit dem Titel Lebenssituation, Sicherheit und Belastung im Alltag vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) soll im Jahre 2025 mehr Zahlen und Fakten zu dem Thema bringen. Vielleicht kann dies zumindest für eine genauere Definition und auch Sichtbarkeit sorgen. Ein Blick auf den Bundeshaushalt 2024 , lässt allerdings fragen, ob überhaupt genug Geld da ist, um dieses Thema ordentlich anzugehen. Nicht ganz 3 % des Haushaltes gehen an das BMFSFJ, dessen Aufgaben sehr umfangreich sind. Es wäre deshalb wünschenswert, mehr Geld zur Verfügung zu stellen, um gesicherte Zahlen und Lösungsansätze zu bekommen und Beratungsstellen finanziell zu unterstützen.
Warum wird digitale Gewalt auch als geschlechtsspezifische Gewalt beschrieben?
Laut der bereits genannten Umfrage von HateAid berichten 30% der Männer und 27,5% der Frauen, dass sie von Digitaler Gewalt betroffen sind. Die oben zitierte Definition von Digitaler Gewalt vom bff setzt sich allerdings so fort:
[...] Als geschlechtsspezifische Gewalt ist sie häufig Teil von (Ex)Partnerschaftsgewalt, Stalking und Trennung
bff Frauen gegen Gewalt e.V.
Geschlechtsspezifische Gewalt wird vom Institut für Menschenrechte als "Gewalt, die sich gegen eine Person aufgrund ihres biologischen oder sozialen Geschlechts richtet" definiert (Quelle). Auch das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben führt Digitale Gewalt im Rahmen von Partnerschaftsgewalt an. Digitale Gewalt wird hier also als Ergänzung und Fortführung partnerschaftlicher Gewalt gesehen, von welcher laut kriminalstatistischer Auswertung vornehmlich Frauen* betroffen sind. Viele Frauen* berichten, dass die partnerschaftliche Gewalt auch im digitalen Raum stattgefunden hat. Es gibt viele Berichte darüber, wie Frauen* geschlechtsspezifisch von Digitaler Gewalt betroffen sind, wie zum Beispiel von Kameras auf Festivaltoiletten oder anderen öffentlichen Toiletten. Verlässliche Zahlen konkret zu Digitaler Gewalt und dazu, wer wie betroffen ist, gibt es leider nicht, weil Studien fehlen. In meiner Recherche fand ich vor allen Dingen Positionen, die Frauen* als Hauptbetroffene Digitaler Gewalt herausstellen. Dies kann kann daran liegen dass sich Digitale Gewalt, wie auch analoge Gewalt, anders auf marginalisierte Gruppen, also Personen die z.B. von Sexismus, Rassismus, Ableismus, etc. betroffen sind, auswirkt. Wie auch Francesca Schmidt in Netzpolitik richtigerweise betont, muss hierbei die Differenzierung in der Betroffenheit von Digitaler Gewalt auch intersektional stattfinden und nicht nur auf das Geschlecht. Wenn wir erstmal von Hate Speech ausgehen: Francesca Schmidt beschreibt, wie marginalisierte Gruppen sexistisch und rassistisch beleidigt werden im Rahmen einer politischen Diskussion. Anstatt auf sachlicher Ebene mit den Personen zu diskutieren, wird das Geschlecht, die Herkunft und andere Faktoren mit einbezogen und die Person darüber diffamiert. Die Gewalt wird persönlich und soll Körper und Seele angreifen, nicht nur die Meinung oder den politischen Standpunkt. In der Fachdokumentation: Digitale Gewalt - Wissenschaft, Praxis und Strategien verwenden Dr. Nivedita Prasad und Felicia Ewert auch den Begriff Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt. Eine etwas andere Herangehensweise die Digitale Gewalt als solches nicht als geschlechtsspezifisch sieht, sondern das Phänomen Gewalt an Frauen* (und anderen marginalisierten Gruppen) speziell im digitalen Raum betrachtet. So oder so, wie auch schon im Artikel über Ethik und Digitalisierung schnell klar wurde: Sexismus, Rassismus, Transphobie, Ableismus und weitere Diskriminierungsformen aus dem analogen Raum setzen sich im digitalen Raum fort. Auch hier bin ich auf die Studie des BMFSFJ und deren Ergebnisse gespannt.
Was können wir tun?
Präventiv können wir wenig tun, damit uns keine:r ein AirTag unterjubelt oder uns auf der Toilette mit einer versteckten Minikamera filmt. Wir können aber Betroffene unterstützen. Und sie ernst nehmen. Unser technisches Know How anbieten und Wissen teilen. Auf potentielle Gefahren, welche mit Technik möglich und nicht unbedingt sofort erkennbar sind, aufmerksam machen, wie AirTags, Minikameras, Spyware etc. . Die Haecksen, eine FINTA-inklusive Gruppe aus der Hacke*innen-Szene, klären auf antistalking.haecksen.org über digitale Gewalt auf und stellen konkrete technische Anleitungen bereit. Hier können Betroffene nachlesen, wie sie eine Rufnummer blockieren oder Ortungsdienste auf ihrem Smartphone konfigurieren.
Ganz wichtig ist natürlich die Verantwortung nicht nur bei den (potentiell) Betroffenen zu lassen und ganz klar Täter:innen keinen Raum zu geben. Wir dürfen nicht Gefahr laufen, dass Betroffene sich ganz aus dem digitalen Raum entfernen aus Angst, dass ihnen (erneut) Gewalt angetan wird. Außerdem, wie immer: Politik und Justiz wegleiten von Klarnamenpflicht als einzige Lösung. Wir sollten zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich mit den Ursachen und Auswirkungen digitaler Gewalt befassen, unterstützen. Politische Parteien können, z.B. über Petitionen wie diese von HateAid, darauf aufmerksam gemacht werden, dass Digitale Gewalt in ihrer ganzen Vielschichtigkeit als Problem adressiert und bekämpft werden muss und finanzielle Mittel genau dafür bereitgestellt werden sollten.